Das Bitten um Hilfe darf nicht manipulativ werden. Manipulation, das mögen sie hier alle nicht.
Ich werfe mich auf den Boden und eigentlich würde ich gerne noch viel mehr machen, schreien und weinen und mich beißen und kratzen. Torvald und ich haben schon lange kein Wort mehr miteinander gewechselt.
Ich weiß eigentlich gar nicht mehr wie das geht, um Hilfe fragen ohne dabei zu manipulieren. Ich hasse die Menschen, sie sind nie für mich da.
Ich will dass es ihm auch schlecht geht, er soll sehen was er mit mir gemacht hat und das gleiche fühlen, er soll sich so fühlen wie ich mich fühle. Kleine Kinder werfen sich auf den Boden, an der Supermarktkasse, weil sie noch einen dieser Schokoriegel wollen. Mein Vater zeigt kein Verständnis dafür, dass ich mich auf den kalten Küchenfliesen zusammenkauere und leise schluchze. Er steigt über mich hinweg. Kurz sehe ich seinen strafenden Blick, dann drücke ich mein Gesicht in die Pulloverärmel.
Heute wollte ich fröhlich sein. Mir war gar nicht nach Weinen zumute, als ich aufgestanden bin. Heute wollte ich mich leicht fühlen und ein wenig tanzen. Ich habe meinen ganzen Kleiderschrank ausgeleert, um zu sehen, was weg kann. Da waren so viele Teile, an die ich mich kaum erinnern konnte und die ich endlich mal anziehen sollte. Dann habe ich so viel wie möglich von dem angezogen, was ich noch nie getragen habe und in den ganzen Kleidungsstücken schwitze ich mich halb zu Tode. Aber Torvald soll denken, dass ich friere. Ich winde mich auf den kalten Küchenfliesen. In all den Sachen bin ich viel zu unbeweglich, um zu tanzen.
Ich bin gerne allein. Ich mag niemandem. Mich mag ich auch nicht, weil mich eigentlich auch niemand mag. Ich wickele mich gerne in die vielen Decken in meinem Bett ein und schaue aus dem großen Balkonfenster. So verbringe ich die Zeit, die ich nicht in der Schule verschwenden muss.
Ich weiß nicht, was ich später mal werden will. Vielleicht tot sein. Meine Noten sind gut, sterben wäre Verschwendung in den Augen meines Vaters. Ich glaube ich will einfach wegziehen und mich nicht wieder durch die Grenzen einer Institution einsperren lassen. Torvald sagt, ich werde Jura studieren. Ich bräuchte neue Herausforderungen, ich langweilte mich zu viel.
Wenn das viele Liegen und aus dem Fensterstarren zu langweilig wird, stehe ich auf und öffne die Balkontür. Zünde mir eine Zigarette an. Krümmele mit der Asche auf meine Socken und meine Hände. Manchmal verbrenne ich die Enden meiner langen Haare mit der Zigarette, die sind eh so kaputt vom vielen Färben. An der Hausaußenwand drücke ich die Glut aus. Da sind schon viele Flecken, die der Regen nie erwischen wird. Ich mag das. Es erinnert mich an die großen Schwestern der Mädchen aus der Grundschulzeit. Einige der Mädchen erzählten immer, dass ihre Schwestern alle aufgerauchten Zigarettenschachteln sammelten und sie an die Wand hingen. Wohl um anzugeben, wie viel Coolness sie schon verqualmt hatten. Mir war das immer egal, ich wollte nie eine dieser großen Schwestern, die ständig rauchen und Sex haben. Ich habe dann nur immer gedacht, dass ich auch mal so sein werde, nur ohne die kleine Schwester, die das herumerzählt.
Und die vielen Abdrücke an der Hauswand, die stehen irgendwie dafür.
Ich weiß es nicht, ist nur so in meinem Kopf gewesen.
Um Torvald zu ärgern, bringe ich manchmal jemanden mit nach Hause. Eigentlich freut er sich, wenn ich ihm den Glauben schenke, Freunde zu haben. Mit diesen Freunden sitze ich hier in der Küche und quatsche, wir trinken Tee und abends dann etwas Kaffee und viel mehr Sekt. Diese Freunde bringen mich weiter.
Das war aber nur ganz selten so.
Irgendwann habe ich begonnen, an den Wochenende auszugehen. Dann in der Woche. Und weil Torvald selten bemerkte, dass es eher ungünstig für meine schulische Leistungen ist, wenn ich erst wenige Minuten vor Schulbeginn nach Hause komme, habe ich begonnen, sie mitzubringen. Jemandem in meinem Alter, das war leicht. Betrunken sind wir die Treppe hoch in mein Zimmer gestolpert und er hat noch versucht, an mir herumzufummeln, ist dann aber gleich eingeschlafen. Dann habe ich Männer gesucht. Einmal war da jemand, der war vielleicht ein paar Jahre jünger als Torvald. Ich hatte mich sehr stark geschminkt, doch vielleicht stand er wirklich einfach auf kleine Mädchen. Er sah gut aus und schien Geld zu haben, ich ging da mittlerweile nur noch in die Clubs mit hohem Eintritt und den Anzugträgern. Dabei finde ich Menschen unsympathisch, die nicht einmal in ihrer Freizeit beim Feiern Jeans und Shirt tragen können. Er hat mich zum Essen eingeladen, ein paar Tage darauf. Gespräche über die Langeweile, ein wenig über die Liebe, über viel von dem, was ich kannte und dann wieder viel von dem, was ich nicht kannte, wovon ich vielleicht gar nichts wissen wollte. Ich hatte alles an Gefühlen und Körperirritationen, was ich nicht haben wollte.
Das war das erste Mal, dass Torvald mich darauf ansprach. Er hatte es kaum realisieren können, war außer sich vor Wut, hilflos irgendwie. Ich weinte, weinte viel und mochte ihn nie mehr ansehen. Er hat versagt. Das weiß er. Das hielt ich ihm jetzt vor Augen. Mehr wollte ich nicht. Und weinen tue ich auf Knopfdruck.
Ich bin manipulativ. Ich habe aufgehört, darauf zu warten, dass jemand mich beachtet und mir hilft. Ich habe aufgehört, zu fragen. Zu bitten. Manchmal bettele ich. Manchmal spiele ich, damit er mich beachtet. Vielleicht werde ich bald wegziehen, die Schule nähert sich dem Ende. Ich will eigentlich nur weg sein. Ich will gar nicht an einem anderen Ort sein und da leben. Ich will nur dass sie hier alle wissen, ich bin weg. Meine Noten sind zu gut, um nichts aus meinem Leben zu machen, sagt mein Vater. Ich will weg sein. Weggehen will ich aber gar nicht, das kostet so viel Kraft.